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Vorurteile und hightech

Beitrag 14.10.2011, 19:31 Uhr
Guest_guest_*
Themenstarter


Neulich sah ich eine Sendung im Fernsehen. Es ging wiedermal um Vorurteile Ost-West.
Umfragen auf der Straße in Leipzig, Dresden, Ulm, Stuttgart, Essen und anderen Kleinstädten.
Der Reporter fragte in Stuttgart eine ältere Frau: "Was halten Sie von Ossi's?" "Noi, do will i nix zu sage." Reporter:"Wiso denn?" Oma: "Des kommt net gut aa." Reporter: "Warum? Haben sie denn schon mal einen 'Ossi' kennengelernt?"
Omi überlegt etwas...: "Hajo, moi Schwiegerdochder".
Ja, das ist natürlich vernichtend...
Im 'Osten' kam dann auch der 'Besserwessi' an den Pranger...wie immer.

Nun lebe ich seit einigen Jahren unter Schwaben und Badensern... Bitte keine mitleidigen Blicke. Es gibt durchaus auch intelligente Vertreter dieser Spezies - wenn auch nicht überall. Einige zähle ich sogar zu meinen Freunden. Jaa wirklich!

Mir fiel bei diesem Fernsehbeitrag ein Vorstellungsgespräch ein, das allerdings schon einige Jahre her ist. - Etwa um die Jahrtausendwende -
Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, würde ich es der Phantasie eines Kabarettisten zuschreiben.

Ich stellte mich also bei einem kleinen Unternehmen nördlich von Stuttgart als CNC-Fräser vor, das Pumpengehäuse aus PVC produzierte und laut Anzeige in der Zeitung einen CNC-Programmierer für Siemens-Steuerungen suchte. Das passte, hatte ich doch die letzten Jahre mein Arbeitsleben damit verbracht, an Sinumerik 840D und anfangs auch 840C zu programmieren.
Der Chef, ein Urbild des Schwaben, fragte mich allerlei, was in meiner Bewerbung stand. Gut, er hätte es auch lesen können, aber man weiß ja nie... 'Vielloichd had der ja au die Bewerbung von seim Nachbarn deboi...'
"Do staht sie hebbet in Ruhla Wergzeigmacha glernt... Wo isch dann des??" Ich sah in sein wirklich fragendes Gesicht und antwortete ruhig: "Das ist bei Eisenach, wo Luther die Bibel auf der Wartburg übersetzte. - In Thüringen."
Er schaute etwas entsetzt... "Hajo! Des isch doch do boi Bole (Polen)..."
Ich muß etwas entgeistert geschaut haben... weil er mich fragte: "Schdimmd doch oddr?"
Jetzt dachte ich ja: 'Der ist gut drauf und will 'Spässle.' - Ich bin dabei...
"Ja, fast" sagte ich mit noch ernster Mine. "Na wie habet Sie dann so oine Beruf lerne kenne? Die hadde do nix" kam dann aus dem Brustton der festesten Überzeugung. Ich wartete einige Momente auf das erlösende Lächeln... er meinte das so?!
"Na ja" sagte ich dann mit etwas devoter Mine: "Die Leute in unserem VEB waren ja zu ungebildet und faul, um Uhrwerke mit der Hand zu montieren. Deshalb mußten wir in den 70'ern dafür Montage-Automaten schnitzen. Noch mit elekronischen Steuerungen! Völlig altmodisch! Und völlig unrentabel! Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen...Nur gut, daß Neckermann und Quelle sich erbarmt hatten, uns einige Exemplare gnädigerweise abzukaufen, damit wir uns nicht auf den restlichen Fensterkitt stürzen mußten, den die Russen uns noch gelassen hatten."
Er muß wohl doch bemerkt haben, daß ich das nicht wörtlich meinte und etwas ... sagen wir ... angepisst war.
"So, nu will ich Ihne moo zoige, wie 'MIR' hier mit 'HOIDEGG" produzieret... kommetse!"
Er führte mich vorbei, an der Verwaltung mit einem Tresen, den ich schon in einer Schweriner Kneipe gesehen zu haben glaubte, auf dem ein abgegriffenes schwarzes Backelit-Telefon mit Wählscheibe thronte. Dahinter ein Büro, das auch schon als Handelskontor für Kolonialwaren gedient haben könnte und einem Lager, das mich an die Werkzeugausgabe im Keller des Sondermaschinenbaus in Ruhla erinnerte. "Des isch onser Doilelager... gell"...
Wir betraten einen spärlich ausgeleuchteten ...Raum... mit zwei Fenstern, ... Maschinen... und grünlich schimmerndem Wellblechdach.
Ich sah mich um.... entdeckte aber keine Kassierrerin, die mir das Ticket für die historische Ausstellung übereichen konnte...
In der Mitte des Raumes enteckte ich unter frischen Spänen eine vertraute Sillouette mit einem Logo das ich schon aus Kinderzeit kannte 'UMF Ruhla': "Eine Duplex-Achtundfünfzig von 1955" kam es freudig aus mir heraus. 'Das es sowas noch gibt!' dachte ich. 'Die ist drei Jahre älter als ich'
"Ja kennet sie soebbes übberhoubd?" hörte ich hinter mir..."Des isch no deutsche Wertarbeit... die han i in Ulm kaaft boi 'UMF'! Des isch hald ned so en Glumb wie em Oschde!"
"Ja" sagte ich mit fast schluchzender Stimme: "Ich hab' an der Maschine fräsen gelernt... in der Arbeitsgemeinschaft 'Historische Technik' in der 6.Klasse"
Zwei Schritte weiter: "Ohhh ein Bohrwerk aus Chemnitz" murmelte ich vor mich hin...und entdeckte das verharzte Typenschild:'UNION' "Die is nemme ganz neu...aber des isch au ned so a Gruschd wie aus em Oschde. Die duat noo!".
Nun zeigte er mir sein 'HOIDEGG'-Sahnestückchen... Eine Portalfräse mir völlig unbekannter Herkunft, aber einem Schild von 'Hahn&Kolb Stuttgart', mit 'hochmoderner NC-Steuerung' ... mit Lochstreifen. "Die isch von Siemens! ...kennet sie des?" fragte er bedeutungsschwanger.
"Ja, schon..." Ich legte den Kopf etwas auf die Seite ... "Siemens schon.... Die Lochstreifen gibts doch noch zu kaufen...oder kleben sie jetzt Aktentrennstreifen zusammen?"....
Auf die respektlose Frage "Wieviel Reichsmark hat die denn mal gekostet?" bekam ich keine Antwort mehr.

Ich hab die Stelle übrigens nicht bekommen. Gut, ich wäre auch einfach überfordert - mit so viel 'Hoidegg'.
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Beitrag 14.10.2011, 20:25 Uhr
InTex
Level 7 = Community-Professor
*******

biggrin.gif Brüüüüllll spitze.gif

sorry.gif aber davon gibt es wirklich ne Menge


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Eine Schraube ohne Gewinde ist ein Nagel

Grüsse aus dem Harz - InTex
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Beitrag 14.10.2011, 20:34 Uhr
CNCFanatiker
Level 8 = Community-Ehrenmitglied
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...fragt sich nur wer darüber lachen kann thumbs-up.gif


ich kanns jedenfalls m8.gif spitze.gif super.gif



tragisch sind aber die Vorurteile... und das Unwissen darüber was man da eigentlich für einen Maschinenpark hat... gelle?


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Gruß / Regards
CNCFanatiker
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Wenn wir immer das tun was wir können, dann bleiben wir immer das was wir sind.
If we always this act what we are able to do, then we always remain what we are.
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Beitrag 14.10.2011, 21:08 Uhr
Guest_guest_*
Themenstarter


@CNCFanatiker
Das schlimmste kam ja erst danach.... Ich mußte noch Auto fahren....
Weißt du wieviele Leitplanken es zwischen Stuttgart und Karlsruhe gibt?...

Der Beitrag wurde von guest bearbeitet: 14.10.2011, 21:10 Uhr
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Beitrag 14.10.2011, 21:22 Uhr
CNCFanatiker
Level 8 = Community-Ehrenmitglied
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QUOTE (guest @ 14.10.2011, 22:08 Uhr) *
@CNCFanatiker
Das schlimmste kam ja erst danach.... Ich mußte noch Auto fahren....
Weißt du wieviele Leitplanken es zwischen Stuttgart und Karlsruhe gibt?...


@ guest

Nein eigentlich nicht, - aber nun machst du mich neugierig? Was geschah an jenem Tage auf der A8?


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Beitrag 14.10.2011, 21:26 Uhr
Guest_guest_*
Themenstarter


QUOTE (CNCFanatiker @ 14.10.2011, 22:22 Uhr) *
@ guest

Nein eigentlich nicht, - aber nun machst du mich neugierig? Was geschah an jenem Tage auf der A8?


Ich hab' streckenweise nichts mehr gesehen... vor Tränen in den Augen... und Tränen in der Unterhose...
Aber traurig war ich nicht.
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Beitrag 14.10.2011, 21:54 Uhr
CNCFanatiker
Level 8 = Community-Ehrenmitglied
Gruppensymbol

QUOTE (guest @ 14.10.2011, 22:26 Uhr) *
Ich hab' streckenweise nichts mehr gesehen... vor Tränen in den Augen... und Tränen in der Unterhose...
Aber traurig war ich nicht.


Ich hoffe mal ich habs nicht falsch verstanden und lege das jetzt mal positiv aus zumindest für deine Stimmung... thumbs-up.gif


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CNCFanatiker
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Beitrag 14.10.2011, 22:00 Uhr
Guest_guest_*
Themenstarter


QUOTE (CNCFanatiker @ 14.10.2011, 22:54 Uhr) *
Ich hoffe mal ich habs nicht falsch verstanden und lege das jetzt mal positiv aus zumindest für deine Stimmung... thumbs-up.gif


Da kriegt man doch feuchte Knie und weiche Augen... wink.gif
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Beitrag 15.10.2011, 23:03 Uhr
wolke1
Level 4 = Community-Meister
****

QUOTE (guest @ 14.10.2011, 23:00 Uhr) *
Da kriegt man doch feuchte Knie und weiche Augen... wink.gif


Tach und Grüße
Da hab ich auch noch einen. tounge.gif
Mein Unternehmen,in dem ich jetzt seit 30.Jahren wirke ,wurde nach der Wende ,von einem reihnländischen Unternehemen übernommen.
Ich bin gelernter Werkzeugmacher zu Ostzeiten.Kenne also Messmittel bis auf 0.01mm.
Um Prozeße und den Leistungsanforderungen kennenzulernen habe ich die Ehre gehabt ,im Mutterwerk 1991 ein halbes Jahr zu arbeiten .
Es war ein Leistungstest ,den man zu bestehen hatte,um im Heimatortstandort weiter zu beschäftigt zu werden.
Und da kamen eben Fragen von den Vorrarbeitern -hasste schon mal einen Meßschieber gesehen ? Und kannste damit umgehen?
Ich mußte damals Bolzen schweißen an Unterplatten von Bizerba-Waagen-als Beispiel.
Meine Antwort war -ja habe ich schon gesehen.
Mußte ein paar mal den Vorarbeiter zeigen ,das ich es verstehe und auch die Masse messen kann-mit nem Meßschieber.
Ansonsten wurden wir zentral an Stanzen eingesetzt.
Nach 3.Wochen wurde uns gesagt "Ihr müßt mehr als 100% bringen,um den Leistungstest zu bestehen.
Natürlich war dann die Folgereaktion ,das wir die Norm sprengten,zum Nachteil von der existierenden Belegschaft.
Die in der Spätschschicht aus Polen ,Türcken und anderen Ausländern bestand.
Ich mußte auch diese Wutausbrüche von diesen Menschen leben.Und habe seit dem jetzt so meine eigene Einstellung zu solchen lustlosen "Gesellen".
Mußte mich auch echt körperlich Wehren,um meinen Standpunkt darzustellen.
Ich habe bestanden.
Und jetzt bin ich CNC-Fräser ,habe gelernt und lerne dank diesem Forum -auch weiter.
Und ich gebe auch gerne weiter -.

Erfahrung ist was wertvolles
Leben Wir es.
Grüße Wolke1.
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Beitrag 16.10.2011, 19:22 Uhr
Guest_guest_*
Themenstarter


Ich kann mich noch erinnern, als ich nach Baden-Würtemberg kam. Meine erste Stelle hatte ich als "Einsteller" in einer Brillenfabrik. Als ich das erste mal mit einem stumpfen Schnittwerkzeug in den Werkzeugbau kam, fragte mich der Meister, ob ich die Maschine kenne, die da am Gang steht. Es war auch eine 58 aus Ruhla. Allerdings war die noch etwas älter. Auf einem Seitendeckel prangte noch der "Thiel-Anker" aber knapp darüber das letzte Logo "ruhla". Ich konnte mich noch erinnern, daß die letzten Hauptinstandsetzungen in den frühen 80'ern durchgeführt wurden. Ich habe noch die letzte Spindellagerbohrung 1983 ausgebüchst. Das konnte durchaus so eine gewesen sein. Das Schabebild der Führungen war jedenfalls noch durchgängig sichtbar. Die Ausstattung war nicht vollständig aber recht umfangreich. Die Jungs hatten sich jedenfalls gefreut, das jemand die Teilköpfe kennt und auch weiß, wie sie mit den vielen Wechselrädern eingestellt und bedient werden. Der Meister hat mir dann erzählt, daß er auch schon mal in Ruhla war.
Nach der Grenzöffnung war ja absehbar, daß das Uhren- und Maschinenkombinat nicht mehr lange so existieren würde. Der Chef, sein Sohn und der Meister vom Werkzeugbau machten sich also auf den Weg nach Ruhla um sich noch einige Ersatzteile für die 58 zu sichern. In Ruhla angekommen, fragten sie am Haupteingang nach eben diesen Ersatzteilen und Zubehör. Der Pförtner schickte sie dann nach Seebach, weil der Maschinebau seit 1975 vollständig in Seebach untergebracht war.
Erwartet hatten sie wohl eine Halle in der Größe eines Aldi-Ladens....
Ensprechend sprachlos standen sie erstmal vor der alten Maschinenfabrik in der Dorfstraße, wo die eigene Firma im Erdgeschoß locker versteckt werden konnte. Hier wurden sie aber wieder zur "Neuen Maschinenfabrik" weitergeschickt. Der Chef sagte später mal: "Ich kam mir vor wie beim Daimler". Jetzt war das Ersatzteillager, daß das Ziel der Begierde war, noch 600m Luftlinie entfernt. Also mußten sie zum Hintereingang fahren. Das geht nicht direkt, sondern durch das halbe Dorf zurück, Richtung Wald und am Waldrand wieder bergauf. Dort angekommen, an großen Gußstapeln vorbeigeführt, meinten sie nun die heiligen Hallen der Produktion zu betreten. Weit gefehlt. Das war nur das Teilelager. Der Lagerchef sagte, daß für die 58 nicht mehr viel verfügbar sei, weil sie ja nur bis ca. 1960 produziert wurde. Der Raum mit diesen Teilen, war etwas weniger gut augeleuchtet als der Rest der Halle. Gerd schätzte, daß locker 30 Maschinen in Einzelteilen auf Paletten und Regale verteilt waren.
Auto und Anhänger waren auf der Rückfahrt hoffnungslos überladen.
Irgendwo auf der Autobahn zwischen Kirchheimer Dreieck und Heilbronn sinnierte der Chef: "Ich wußte gar nicht, daß die DDR so groß ist...."
20 Kilometer nach Herleshausen... mir war damals nie der Bretterzaun Richtung Polen aufgefallen....

Der Beitrag wurde von guest bearbeitet: 16.10.2011, 19:34 Uhr
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Beitrag 31.10.2011, 22:20 Uhr
baconpep
Level 4 = Community-Meister
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Einerseits traurig diese Generellen Vorurteile, aber eure Beiträge sind Spitze. Ich mußte beim ersten richtig lachen.

Gruß
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