Liebherr setzt innovative CAM-Lösungen zur Produktivitätssteigerung ein
Wo viele andere Hersteller von Wälzlagern aufhören, fängt Liebherr erst zu drehen an: Am Standort Biberach an der Riß, Süddeutschland, werden Großwälzlager von 40 Zentimetern bis hin zu sechs Metern Durchmesser auf riesigen Karussell-Drehmaschinen und Bohrwerken bearbeitet – oft mit längeren Bearbeitungszeiten und zwei Werkzeugen im Eingriff. Neue NC-Programme einzufahren, konnte früher Tage dauern. Der Einsatz der Missler-Software TopSolid‘Cam hat nicht nur die Einfahrzeiten drastisch verkürzt, sondern den gesamten Fertigungsprozess beschleunigt.Das Werksgelände von Liebherr in Biberach ist 58 Fußballfelder groß und liegt - wie die kleine Stadt - an der Riß. Zum 1. Januar 2012 wurden die beiden Geschäftsbereiche der Liebherr-Werk Biberach GmbH - Baukrane sowie Komponenten der Antriebstechnik – in zwei rechtlich eigenständige Firmen getrennt. Die Liebherr-Werk Biberach GmbH ist von nun an ausschließlich für den Baukranbereich zuständig, während die Liebherr-Components Biberach GmbH die Entwicklung und Fertigung von Komponenten der Antriebstechnik für die Firmengruppe Liebherr und andere Kunden verantwortet. Zu diesen Komponenten zählen nicht nur die erwähnten Großwälzlager, sondern auch Planetengetriebe und Seilwinden, elektrische Maschinen sowie Steuerungstechnik. Zur wachsenden Zahl der externen Abnehmer gehören beispielsweise die Hersteller von Windkraftanlagen, aber auch Firmen aus dem maritimen Bereich und andere Baumaschinenhersteller. Das vielseitige Kranprogramm der Liebherr-Werk Biberach GmbH umfasst Geräte aller Systeme und Größenklassen und bietet für jede Aufgabe im Hochbau die richtige Hebetechnik.
Die NC-Programmierer dieser beiden Liebherr-Gesellschaften arbeiten mit demselben CAD/CAM-System, denn TopSolid’Cam unterstützt sowohl die Fertigungsverfahren in der Krantechnik, als auch die Fertigung von Großwälzlagern und Antrieben optimal. Während im Bereich der Großwälzlager die Dreh- und die Bohrbearbeitung auf 4-Achs-Karusseldrehmaschinen und 2-Spindel-Bohrwerken überwiegt, werden in der Antriebstechnik viele Getriebekomponenten auf modernen Drehfräszentren komplett bearbeitet. In der Kranproduktion sind große Bohrwerke und Bearbeitungszentren im Einsatz. Von den insgesamt rund 100 NC-Maschinen unterschiedlicher Typen und Fabrikate sind inzwischen die wichtigsten an die CAM-Programmierung angebunden. Für eine hohe Flexibilität und Durchgängigkeit sind sie fast ausnahmslos mit gleichartigen Siemens-Steuerungen ausgerüstet.
Variantenvielfalt und viele Änderungen
Für die Mitarbeiter in CAM-Programmierung und mechanischer Bearbeitung sind die hohe Variantenvielfalt, die immer kürzeren Lieferfristen und die vielen Änderungen, die oft noch kurz vor Fertigungsstart umgesetzt werden müssen, eine ständige Herausforderung. Flexibel auf veränderte Anforderungen zu reagieren, ist aber auch eine der Stärken des Liebherr-Produktionsstandortes. Um diese weiter zu verbessern und Änderungen noch schneller an die Maschinen zu bringen, sollte die CAD/CAM-Prozesskette deshalb noch durchgängiger gestaltet werden. Die Konstrukteure in Biberach modellieren Kräne und Komponenten der Antriebstechnik seit über zehn Jahren in 3D. Dafür nutzen sie das Direktmodelliersystem von PTC. Die NC-Programme für die spanende Bearbeitung wurden zunächst noch mit einem einfachen 2D-Editor erzeugt, was gerade Änderungen sehr zeitaufwendig machte und bei komplexen Mehrspindel-Bearbeitungen fehleranfällig war. Entsprechend vorsichtig mussten die Werker neue NC-Programme einfahren, denn die Werkstücke können durchaus einen sechsstelligen Betrag kosten.
Das passende System für eine durchgängige 3D-CAD/CAM-Prozesskette zu finden war eine anspruchsvolle Aufgabe: Liebherr wollte ein einheitliches CAM-System für alle Fertigungsbereiche, Maschinentypen und spanenden Bearbeitungsverfahren haben. Die Software musste neben der Fräs- und Bohrbearbeitung vor allem auch die Drehbearbeitung unterstützen. Sie sollte außerdem über leistungsfähige Synchronisationsfunktionen verfügen, um die parallele Bearbeitung mit zwei Werkzeugen optimal auf beide Spindeln verteilen zu können. Mit der Programmierung von zwei Drehmeißeln oder zwei Bohrspindeln lassen sich Bearbeitungszeiten erheblich reduzieren und Kosten einsparen.
Kundenspezifische Postprozessoren
Nach eingehender Marktrecherche entschied man sich für das französische Unternehmen Missler Software als Partner. Die Missler-Software TopSolid’Cam wird in Biberach von gut 15 Programmierern genutzt. In AdeQuate Solutions fand Liebherr einen leistungsstarken Partner für die Einführung des Programms. In mehreren Schritten band das Lahrer Systemhaus den umfassenden Maschinenpark der verschiedenen Fertigungsbereiche an die CAM-Lösung an. Sie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass der Anwender in der virtuellen Maschinenumgebung programmiert. Insgesamt hat AdeQuate Solutions über 30 verschiedene Postprozessoren für die Anbindung der unterschiedlichen Maschinentypen in Krantechnik, Großwälzlager und Antriebstechnik geschrieben bzw. Liebherr-spezifisch angepasst. Liebherr stellt hohe Anforderungen an die Postprozessoren, um kürzeste Bearbeitungszeiten bei gleichzeitig geringem Bedienungsaufwand des Programmierers zu erreichen. Wichtig ist außerdem ein zuverlässiger und schneller Support des Applikationspartners. AdeQuate Solutions hat für Liebherr auch einige Besonderheiten realisiert, beispielsweise in der Bearbeitung von Großwälzlagern-Laufbahnen oder der Fertigung von Seilwinden-Trommeln. Dabei war es möglich bis zu 20 Einzeloperationen zu einer Bearbeitungsfolge zusammenzufassen und somit den Programmieraufwand deutlich zu senken. TopSolid’Cam bietet die Möglichkeit, für Operationen wie das Gewindebohren, das Schruppen oder das Drehen von häufig in ähnlicher Form vorkommenden Konturen einheitliche Methoden zu definieren, die immer wieder verwendet werden können. Zur weiteren Effizienzsteigerung wird von den Programmierern bei Liebherr auch die Unterprogrammtechnik genutzt, um wiederkehrende Arbeitsschritte nur einmal programmieren zu müssen. Diese Unterprogramme können dann bei verschiedensten Werkstücken genutzt werden und werden von der Maschinensteuerung automatisch aufgerufen.
Anbindung der Werkzeugverwaltung
Im Unterschied zum von Liebherr vorher eingesetzten 2D-Programmiersystem können die CAM-Programmierer die Bearbeitung nun mit Hilfe der 3D-Modelle leichter am Rechner optimieren, so dass beim Einfahren der Programme weniger korrigiert werden muss. Damit lassen sich die Einfahrzeiten bei großen und komplexen Bauteilen in der Krantechnik um 60-80% reduzieren. Um Dreh-, Bohr- oder Fräsbearbeitung mit TopSolid’Cam zuverlässig simulieren zu können, sind nicht nur 3D-Maschinenmodelle, sondern auch realitätsnahe Modelle von Werkzeugen und Aufspannungen erforderlich. Die Werkzeuggeometrie erzeugen die Anwender jedoch nicht in TopSolid’Cam – die entsprechenden Parameter beziehen sie aus dem separaten Werkzeugverwaltungssystem, das Liebherr parallel zur Einführung der CAM-Lösung installiert hat, um den Überblick über den riesigen Werkzeugbestand zu verbessern und weniger Werkzeuge vorhalten zu müssen. Derzeit sind in der Lösung rund 10.000 Werkzeuge mit den Istwerten aus der Werkzeugvoreinstellung erfasst.
Zusammen mit dem Hersteller hat AdeQuate Solutions das Werkzeugverwaltungssystem so an TopSolid angebunden, dass die Anwender bei der Programmierung auf die realen Werkzeugdaten zugreifen können. In der Werkzeugdatenbank sind auch die Standardaufspannungen und selbst entwickelte Aufspannungen hinterlegt. Liebherr hat die CAM-Lösung außerdem an das PDM-System angebunden, mit dem die CAD-Daten aus der Konstruktion verwaltet werden, was die Informationstransparenz am Standort enorm verbessert hat. Die CAM-Programmierer speichern ihre NC-Programme zusammen mit Vordrehzeichnung, Werkzeugliste und anderen Unterlagen artikelbezogen in der PDM-Datenbank ab, so dass man werksweit sehen kann, ob zu einer bestimmten Konstruktion schon die Fertigungsdokumente bereitstehen. Fertige NC-Programme werden über ein DNC-System direkt an der Maschine aufgerufen und bei Änderungen bestimmter Parameter während der Bearbeitung auch wieder zurückgespeichert, damit die CAM-Programmierer sie gegebenenfalls überarbeiten können. Damit erreicht Liebherr ein durchgängiges Konstruktions- und Fertigungsdaten-Management.
Die Erstellung der Fertigungsunterlagen ist mit dem neuen System ebenfalls wesentlich einfacher und schneller geworden. Begleitdokumente wie Werkzeuglisten, Einstellblätter oder Aufspannpläne sind praktisch ein Abfallprodukt aus der CAM-Programmierung. Damit ergeben sich nicht nur Zeitvorteile, auch die Durchgängigkeit der Daten hat sich wesentlich verbessert.
Effizientere CAM-Programmierung
Weiteres Optimierungspotential gibt es in der dem CAM-System vorgelagerten Datenkette. Dies hängt damit zusammen, dass die Modelle aus der Konstruktion im Neutralformat an das CAM-System übergeben werden müssen. Diese nicht-parametrischen CAD-Modelle werden im Nennmaß erstellt, so dass die CAM-Programmierer sie nach dem Import in Mittelmaß-Modelle umwandeln müssen. Das ist nicht nur zeitaufwendig, sondern hat außerdem den Nachteil, dass die NC-Programme bei nachträglichen Änderungen an der CAD-Geometrie nicht auf Knopfdruck aktualisiert werden können, weil Nennmaß- und Mittelmaßmodelle nicht direkt miteinander verknüpft sind.
Es besteht die Möglichkeit, zwei Modellversionen mit Hilfe der Geometrievergleichsfunktion in TopSolid’Cam auszuwerten, die Bearbeitung der geänderten Topologie muss aber „von Hand“ geändert werden. Um diese Problematik zufriedenstellend zu lösen, ist eine weitergehende Integration von CAD- und CAM-Systemen erforderlich. Trotz der Lücken in der CAD/CAM-Prozesskette ist die CAM-Programmierung bei Liebherr in Biberach effizienter und vor allem sicherer geworden. Bei der Mehrachs-Bearbeitung sorgt die Synchronisation der Operationen an beiden Achsen für eine Minimierung der Maschinenlaufzeiten und Einfahrzeiten. Die Verantwortlichen bei Liebherr sind insgesamt sehr zufrieden, die lange Vorbereitungs- und Einführungsphase hat sich gelohnt.