Christian Abegglen

St. Galler Business School

Kontaktdaten

Management

Die kritischen Fähigkeiten
des Menschen freisetzen

Der Erfolg eines Unternehmens beruht auf der Verfolgung von Werten. Nach den Prinzipien Verantwortung, Wandel, Vertrauen, Innovation und Offenheit hat Dr. Manfred Wittenstein die Wittenstein SE zum Hersteller von mechatronischer Antriebstechnik gemacht, gefestigt und für die Zukunft aufgestellt. Wittenstein, Inhaber und Aufsichtsratsvorsitzender, ist vor einigen Monaten 75 Jahre alt geworden. Ihm ist es wichtig, das Unternehmen nicht nur erfolgreich zu führen, sondern gleichzeitig nach ethischen Prinzipien zu handeln. Das Gespräch über die Werte des Unternehmenslenkers, der von 2007 bis 2010 Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau war, führte Dr. Christian Abegglen, Direktor der St. Galler Business School.


Verantwortung

Oft hat man den Eindruck, wir leben in einer Zeit der organisierten Unverantwortlichkeit – im Politischen, im Gesellschaftlichen und auch in der Wirtschaft. Sowohl das Spitzenmanagement als auch die Mitarbeiter in den Unternehmen koppeln sich im großen Stil ab von der Verantwortung für die Resultate und Folgeeffekte ihres Tuns. Nicht überall, aber doch in beängstigendem Maße und mit steigender Tendenz. Ist dies tatsächlich so?

Wittenstein: Ich denke, der Eindruck täuscht nicht. Tatsächlich erscheint mir das ebenso eine gefährliche Entwicklung genau in diese Richtung. Eine taugliche Hypothese zur Begründung dieser Tendenz kann in der Zunahme der Dynamik, Komplexität und Vernetzung liegen, durch die sich die Wertschöpfung – gerade in wissensintensiven, innovativen und international agierenden Unternehmen – mehr und mehr auszeichnet. Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind in dieser Welt weniger gewiss und weniger deutlich erkennbar als früher, der eigene Beitrag zum Ganzen gerät leicht aus den Augen. Damit geraten womöglich Orientierung, Motivation und Verantwortungsbewusstsein unter die Räder.

Es ist oberste Führungsaufgabe, diesen negativen Kräften etwas entgegenzusetzen, für Gemeinsamkeit in Vision, Sinnhaftigkeit und Werten, die das Denken und Handeln begleiten, zu sorgen. Maximale Transparenz in den Abläufen, möglichst viele Gelegenheiten zu Perspektivwechseln sowie häufige persönliche Kommunikation sind meiner Überzeugung nach zielführende Ansätze dabei. Eines ist zudem gewiss: Führung beinhaltet stets auch die unbedingte Verantwortung, Vorbild zu sein. Verantwortungslosigkeit ganz oben wird schnell erkannt und ist ansteckend im Unternehmen wie ein Virus. Die Verantwortung ragt dabei weit über die Grenzen des eigenen Unternehmens hinaus, ist im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu bewerten. Und: Sie endet auch nicht dort, wo sie einem selbst vielleicht weh tun könnte.

Wandel

Dynamik, Vernetzung und Komplexität sind für sich genommen keine neuen Phänomene, deren Intensität und Wirkmacht – nicht zuletzt eine Folge der zunehmenden Digitalisierung – seit einiger Zeit jedoch besonders herausfordernd sind. Wie gestaltet man in einem ohnehin hochdynamischen und technologisch vorauseilenden Unternehmen wie Wittenstein den erforderlichen Wandel und worauf kommt es besonders an?

Wittenstein: Die Wittenstein SE befindet sich auf den ersten Blick permanent im Wandel. Technologisch, geographisch, organisatorisch – das Gesamtsystem wird kontinuierlich weiterentwickelt, um für unsere Kunden weltweit ein exzellenter Partner auf dem Gebiet der mechatronischen Antriebstechnik zu sein. Die Möglichkeiten der Vernetzung und Digitalisierung sorgen in der Tat für eine neue Dimension der Komplexität und Dynamik. Allerdings liegt für uns darin auch enormes Potenzial für intelligente Produkte und völlig neue Geschäftsmodelle.

Auf den zweiten Blick ist es jedoch so, dass dadurch beileibe nicht alles Alte eingerissen und nun alles anders werden muss. Vielmehr gilt es, in der Vergangenheit Bewährtes intelligent zu ergänzen und gegebenenfalls anzupassen. Die sogenannte Digitale Transformation ist hierfür geradezu ein Musterbeispiel. Digitalisierung macht dort Sinn, wo sie für die eigene Wertschöpfung, die Kunden oder die Gesellschaft insgesamt einen Mehrwert generiert beziehungsweise Belastungen reduziert. Wo dies nicht in Aussicht steht, dort heißt es: Finger weg von sinnlosem Digitalisierungswahn mit der Gießkanne! Die Basis für diese Differenzierung ist stets ein hinreichend tiefes Verständnis vom eigenen Geschäftsmodell, von den Geschäftsmodellen der Kunden und den gesellschaftlichen Bedürfnissen. Im Übrigen gibt es in einem Unternehmen ab einer gewissen Größe immer neben den progressiven, dem Wandel gegenüber positiv aufgeschlossenen Mitarbeitern auch solche, die eher defensiv, bewahrend denken und handeln. Das muss nicht schlecht sein; die Kunst besteht meines Erachtens darin, den Mitarbeitern die jeweils passenden Rollen und Aufgaben zuzuordnen und als Führungskraft für eine Verschränkung der beiden Welten „Wandel“ und „Kontinuität“ zu sorgen. Nicht „entweder oder“ sondern „sowohl als auch“ lautet mein Credo.

Im Foyer der Wittenstein-Innovationsfabrik: Mit Manfred Wittenstein (links) spricht Christian Abegglen (rechts). Im Hintergrund ist ein Werk des deutschen Fotokünstlers Michael Najjar zu sehen. Foto: Wittenstein

Vertrauen

Es ist im Lauf der Zeit immer schwieriger geworden, den Überblick zu behalten, als Führungskraft Orientierung und Zutrauen zu vermitteln. Die Welt ist flach, das Tempo hoch, alles hängt irgendwie voneinander ab, das entscheidungs- und handlungsrelevante System ist beliebig groß geworden. Mit der Zunahme von Einflüssen und Alternativen nehmen logischerweise die Anforderungen an das Management zu, kontextbezogen zu analysieren, zu interpretieren, zu entscheiden und für die erfolgreiche Umsetzung zu sorgen. Die Richtigkeit von Entscheidungen, die Effektivität und Effizienz von Umsetzung sind mehr und mehr unscharf oder relativ. Der Kontext ändert sich permanent – insofern variieren Ableitungen, Interpretationen und Bedeutungen gerade im relativen Zueinander. Wie kann Führung dennoch für Orientierung, Verlässlichkeit und Vertrauen sorgen?

Wittenstein: Zunächst einmal muss die Führung natürlich selbst orientiert sein sowie Vertrauen in die Richtigkeit ihrer Ziele und Strategie haben. Der St. Galler Management-Ansatz beziehungsweise das Konzept Integriertes Management, wie es von der St. Galler Business School erfolgreich gelehrt wird, ist hierfür ein taugliches und zuverlässiges Denkgerüst. Auf dieser robusten Basis sind – davon bin ich überzeugt – heutzutage mehr denn je die Mitarbeiter frühzeitig intellektuell einzubinden. Kommunizieren, erklären, beteiligen – wesentliche Führungsaufgaben, und zwar maximal persönlich. Das Ganze getragen von einem stabilen und verlässlichen Wertegerüst und ausgerichtet auf starke und sinnhafte Zukunftsbilder. Nur so sind die Mitarbeiter tatsächlich in der Lage, Vertrauen in die Führung gewinnen zu können. Nur auf Basis eines gemeinsamen Verständnisses kann die Führung das Vertrauen in die Mitarbeiter haben, dass diese ihre Verantwortung vor Ort tatsächlich zum Wohl des Gesamtunternehmens wahrnehmen. Nur so sind Mitarbeiter keine Mitläufer sondern die Mittäter, die man zur Erreichung herausfordernder Ziele braucht.

Innovation

Das Unternehmen Wittenstein zeichnet sich durch leidenschaftliche Innovationskraft aus. Innovation findet nicht nur im technologischen Sinn statt. Auch Prozesse, Geschäftsmodelle, Marketing und vieles weitere mehr lässt sich kreativ und nutzenstiftend weiterentwickeln. Fokussieren wir mal auf Innovation von Produkten, in Ihrem Fall primär auf dem Gebiet der mechatronischen Antriebstechnik. Unabhängig davon, was nun genau im Vergleich zu vorhandenen eigenen oder fremden Lösungen verbessert werden soll – wie lassen sich die Anforderungen an eine neue Produktidee zusammenfassen?

Wittenstein: Das ist eine schwierige Frage. Ich versuche es einmal so. Erstens beherrschbar: Technik hat oft etwas Bedrohliches, und von ihr kann tatsächlich Gefahr ausgehen. Daher müssen sich unsere Kunden darauf verlassen können, dass auch noch so innovative Produkte stets von den Menschen beherrscht werden können und eben keinesfalls umgekehrt. Zweitens dienend: Technik hat eine dienende Funktion, Technik hilft Menschen und treibt sie nicht auseinander oder vor sich her. Technik für Menschen – das war für mich schon immer oberstes Gebot. Drittens sinnvoll: Unsere technologischen Erfindungen müssen einen sinnvollen Beitrag leisten zu gesellschaftlich relevanten Bedürfnissen oder Herausforderungen. Ernährung, Gesundheit, Sicherheit, Mobilität, Ressourceneffizienz, Umweltschutz – um ein paar prominente Beispiele zu nennen.

Offenheit

In der Unternehmensphilosophie von Wittenstein ist zu lesen „Wir gestalten Beziehungen und bilden mit allen Mitwirkenden Netzwerke, die fruchtbar und werthaltig sind.“ Ebenso zu lesen: „Wir leben Offenheit (...).“ Ist Offenheit wesentliches Element der Unternehmensstrategie?

Wittenstein: Das ist in jedem Fall so. Zunächst einmal entstehen durch kluge Vernetzung zusätzliche Möglichkeiten sich auszutauschen, verfügbares Wissen und Ideen werden vermehrt, Innovationsanstrengungen auf breite Beine gestellt. Daneben helfen der intellektuelle Meinungsaustausch und Offenheit, die kritischen Fähigkeiten des Menschen freizusetzen, Achtsamkeit zu kultivieren, notwendige Veränderungen zu provozieren sowie das eigene Denken und Handeln einer ständigen Beobachtung und Kritik auszusetzen.

Man muss akzeptieren, dass komplexe Systeme wie Unternehmen nie fehlerfrei funktionieren werden. Entscheidend ist der Umgang mit Fehlern, das Lernen daraus und die Bereitschaft, Unvollkommenheiten zu entlarven. Das sollte man gerne aushalten wollen, denn der Erfolg ist der größte Feind von Erfolg, er macht träge und nachlässig, vernebelt die Sicht auf Potenziale und Risiken. Zudem denke ich, dass es gerade für technologieorientierte Unternehmen wichtig ist, sich zu allen gesellschaftlichen Gruppen hin zu öffnen. Wir brauchen die wechselseitige Einsicht. Nur so lassen sich Anschlussfähigkeit und gegenseitiges Verständnis fördern, nur so kann letztlich echter Gemeinsinn entstehen. Mit Blick auf die größer werdenden Risse und Zentrifugalkräfte in unserer Gesellschaft erscheint mir dies wichtiger denn je. Kritischer Austausch und Offenheit als Antworten auf Ungewissheit, Konflikte und die Fragen der Zukunft – für mich letztlich ohne Alternative.

Zur Person

Manfred Wittenstein

Wittenstein SE

Kontakt

Dr. Christian Abegglen

Geschäftsführender Direktor
St. Galler Business School
St. Gallen (Schweiz)
Tel. +41 71 225 40 80
E-Mail senden

www.sgbs.ch