Titelinterview
Der digitale Zwilling beschleunigt die Industrie
Der Digitale Zwilling dient als Schnittstelle der physischen Produkte zur digitalen Welt. Er ermöglicht die Durchgängigkeit einer Datenverfügbarkeit entlang des gesamten Produktlebenszyklus – von der Produktplanung, Entwicklung über Produktion und Nutzung bis zum Recycling. Über die Erwartungen an die weitere Entwicklung von Industrie 4.0 durch den digitalen Zwilling berichtete Dr.-Ing. Matthias Bölke, Vizepräsident Strategie Industrielle Automation bei Schneider Electric, im Gespräch mit Georg Dlugosch, Chefredakteur des IndustryArena eMagazines.
Die Industrial Digital Twin Association (IDTA) ist vor wenigen Monaten gegründet worden. Sie wurden zum Vorstandsvorsitzenden gewählt. Was ist das Ziel der neuen Organisation?
Bölke: Ziel der IDTA ist es, die Digitalisierung in der Industrie zu beschleunigen, indem wir sie vereinfachen. Mithilfe digitaler Zwillinge können wir Strukturen und klare Ordnung in die industrielle Datenwelt bringen. Wenn digitale Zwillinge gut gemacht sind, helfen sie ihren Anwendern, effizienter zu werden und ihre Geschäftsmodelle zu optimieren und zu erweitern. Die IDTA will all dies unterstützen.
Das klingt nach einem großen Vorhaben, wo fangen Sie an?
Bölke: Zum Glück beginnen wir nicht bei Null. Wir verwenden das Konzept der Asset Administration Shell (AAS), auch Verwaltungsschale genannt. Dieses Konzept wurde seit drei Jahren von verschiedenen führenden Firmen der Automatisierungstechnik im Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) und im Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) erarbeitet. Es wurde in zahlreichen Instituten und Applikationen getestet und ist so vielversprechend, dass wir nun eine industrielle Nutzerorganisation gegründet haben.
Warum haben das nicht einfach interessierte Unternehmen an sich gerissen?
Bölke: Das haben sie und erste Applikationen realisiert. Sie sind aber alle davon überzeugt, dass Insellösungen auf Dauer nicht zielführend sind, nicht für Hersteller und nicht für Anwender. Die Welt verändert sich rasant hin zu Interoperabilität und Standards. Wir wollen daher in der IDTA einen internationalen Standard des industriellen digitalen Zwillings schaffen.
Wie viele Gründungsmitglieder haben Sie?
Bölke: 23. Die Gründungsinitiative kommt von den beiden großen Industrieverbänden ZVEI und VDMA. Hier wurden die Grundsteine gelegt und die Verbände haben damit eine hervorragende Arbeit geleistet. Auch international gesehen war das exemplarisch. Dieser Initiative haben sich dann 20 Firmen und die BITKOM angeschlossen. Wichtig ist, dass die IDTA übergreifend arbeiten wird. Hier arbeiten Anbieter, Maschinenbauer und Endanwender sowie OT und IT-Firmen Hand-in-Hand. Ich meine, dass dies sehr vielversprechend ist.
Gibt es überhaupt ein Problem zu lösen?
Bölke: Ich würde nicht von Problemen reden, denn wir Europäer führen mit unserer Fertigungstechnologie und Automatisierungstechnik weltweit mit gutem Abstand. Die große Chance besteht nun darin, dass wir Digitalisierung nutzen, um den Vorsprung auszubauen. Dies wird nur mit cleveren Lösungen für digitale Zwillinge gehen. Denn sie schaffen die nötige Ordnung und damit Effizienz in den Datenwelten, bieten durch Simulation und Transparenz ungeahnte Möglichkeiten für neue Werkzeuge, neue Wertschöpfung. Sie verbinden mehr und mehr physische Produkte, Maschinen, Produktionsanlagen aber auch Steuersoftware mit übergeordneten Softwarelösungen, die sie orchestrieren und optimieren.
Warum spielt diese Ordnung in den Daten eine solche Rolle?
Bölke: Weil wir heute bei der Digitalisierung von Anlagen bis zu 80 Prozent des Aufwandes in die Aufarbeitung von Daten aus der Steuerungsebene stecken. Da bleibt dann von den Budgets nicht mehr viel übrig für die eigentliche Wertschöpfung, die Software ja leisten sollte – und kann. Also wollen wir einen offenen Standard zur Systematisierung schaffen und quasi katalogartig semantische und ontologische Datenmodelle in Automatisierungsanlagen beschreiben. Dann wären einmal spezifizierte Segmente und Applikationen nutzbar. Wir werden dadurch enorme Effizienz schaffen.
Das klingt zunächst vernünftig. Standards gibt es allerdings doch schon zur Genüge.
Bölke: Ja, und wir wollen weder zur Beschreibung von Attributen in der Semantik noch in den Kommunikationsbeziehungen von Geräten und Anlagen neue Standards schaffen. Es gibt ECLASS, OPC-UA und andere gut gemachte Standards, die wir innerhalb der AAS nutzen. Damit sind im Grunde alle Investitionen, die bislang an dieser Stelle getätigt worden, geschützt. Aber die übergeordnete Orchestrierung von Assets, eben die Abbildung als digitaler Zwilling, findet heute fast ausschließlich als Insellösung statt. Informationsmodelle werden meist applikationsbezogen aufgebaut und sind oft nur schwer skalierbar oder für neu auftretende Applikationsbedürfnisse nutzbar. Die AAS kann hier Abhilfe schaffen.
Wer wird von der Umsetzung der Asset Administration Shell und von der Arbeit der IDTA am meisten profitieren?
Bölke: Ich sehe vor allem Maschinenbauer und Betreiber von Fertigungsanlagen, die im Smart Manufacturing angekommen sind. Denn wenn sie mit einheitlichen Informationsmodellen und funktionierenden Datenschnittstellen arbeiten, kommen sie schneller in die digitale Wertschöpfung. Aber auch Systemintegratoren und Softwarehäuser werden ihre Werkzeugkoffer auf die AAS ausrichten können, dann passen Werkzeug und Werkstück zusammen. Zu Beginn der Wertschöpfung stehen die Hersteller von Automatisierungskomponenten und industrieller Software. Es wird auch hier mehr Effizienz geben, wenn wir uns auf die Anwendung weniger Datenmodelle und Schnittstellen der Datenkommunikation innerhalb der digitalen Zwillinge einigten – auch das will die IDTA erreichen. Maschinenbauer und Anlagenbetreiber profitieren dann von mehr Interoperabilität.
Die klingt nach mehr Nivellierung, sind Produkte dann nicht eher vergleich- und austauschbar?
Bölke: Interoperabilität heißt zunächst, dass Produkte unterschiedlicher Hersteller zusammenpassen. Das gilt für Automatisierungskomponenten und Software in einer Maschine wie für mehrere Maschinen in einer Fertigungsanlage und für das Zusammenarbeiten von mehreren Werken im Verbund. Die AAS sorgt dafür, dass sich die Grundfunktionen von gleichen Assets im digitalen Zwilling auch gleich verhalten – egal von welchem Hersteller. Genau das führt eben zur oben besprochenen Ordnung im System. Allerdings finden – und das ist wichtig – Innovationen, Zusatzfunktionen, Neuheiten und Besonderheiten eines jeden Herstellers in der ASS und damit im digitalen Zwilling ebenso statt.
Dadurch also mehr Wettbewerb als bislang?
Bölke: Ja, eindeutig mehr. Denn Innovationen werden schneller sichtbar und ihre Wertschöpfung schneller umsetzbar. Alles, was Sie in Zukunft nicht schnell und effizient im digitalen Zwilling umsetzen können, findet nicht statt.
Wie genau wird denn der digitale Zwilling für Mitglieder und Nichtmitglieder der IDTA nutzbar?
Bölke: Wir stellen zunächst den Bauplan für den digitalen Zwilling, also für die AAS öffentlich zur Verfügung. Durch Open source wird es dann möglich sein, digitale Zwillinge AAS-like von Produkten oder Prozessen aber auch spezielle Applikationen, Datenmodelle oder Tools zu bauen, die andere wiederum nutzen können.
Können digitale Zwillinge miteinander kommunizieren?
Bölke: Das können sie auf ganz unterschiedlichen Wegen. Zunächst können in einer gemeinsamen Topologie – etwa in einer Automatisierungsarchitektur einer Produktionsanlage – die beteiligten Geräte horizontal und vertikal kommunizieren. Dies ist nicht neu, allerdings wird ein digitaler Zwilling eben mehr als nur diese Kommunikation verwalten, sondern für verschiedenartigste Anwendungen – in Form von Apps – Datenmodelle zur Verfügung stellen. Spannender wird es, wenn digitale Zwillinge von Produkten etwa in einer Fertigungsanlage keinen starren Abläufen folgen, sondern wie in Agentensystemen sich selbst verwalten und die Anlage nach flexiblen Parametern nutzen. Diese Konzepte sind ebenfalls nicht neu, wurden aber neuerdings mit der AAS auf ein ganz neues Niveau gehoben. In der Anwendung Production as a Service (PAAS) suchen und finden digitale Zwillinge von Produkten wiederum digitale Zwillinge ihrer adäquaten Produktionsanlage und werden dort mittels sogenannter Smart Contracts gefertigt. Das reduziert Kosten und treibt die Flexibilisierung von Produktionsanlagen und damit weitere Innovationen an.
Welche Verbindung hat der digitale Zwilling zur künstlichen Intelligenz?
Bölke: Wenn wir uns aktuelle KI-Anwendungen in der Industrie ansehen, dann werden zwei Dinge klar: Erstens geht es momentan noch um sehr eng definierte Applikationen zum Beispiel in der Bildverarbeitung, der Leistungsverbesserung von Prozessen, verbesserter Qualitätsparameter oder um topologische Anpassungen von Produktionsprozessen. Zweitens werden wir aber, wenn KI skaliert werden wird, vollständige digitale Zwillinge benötigen – schon um die Datenvolumina entsprechend zu erhöhen. KI wird in der Industrie ebenso mächtig wie in anderen Applikationen, deshalb entwickeln wir in der IDTA den industriellen digitalen Zwilling jetzt auch gemeinsam.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Bölke: Das Go-Live war am 1. März 2020. Die IDTA wird nun wachsen, weitere Teilnehmer aufnehmen und international aktiv werden. Wir arbeiten an einer Open-Source-Lösung, die es ermöglichen wird, die AAS zu verbreiten. Wir wollen außerdem aktiv Applikationen unterstützen und die begonnenen IEC-Standardisierung der AAS voranbringen.
Kontakt
Dr.-Ing. Matthias Bölke
Vice President Strategy Industrial Automation
Schneider Electric
Tel. +49 30 897 12 309
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