Nikolaus Fecht

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Leidenschaft für das Herz

Eine Online-Begegnung der herzlichen Art: 420 Teilnehmer aus 35 Ländern erfuhren, wie sich das 2014 von Dassault Systèmes gestartete, kühne und virtuelle Experiment „Living Heart“ ganzheitlich zu einem digitalen Modell des gesamten menschlichen Körpers entwickelt hat. Referenten des „6th Annual Living Heart Symposium“ berichteten, dass nicht nur die Medizinbranche von dieser digitalen Revolution profitiert.

Virtuell und herzlich ging es schon 2014 auf dem 3D-Experience-Kongress von Dassault in Las Vegas zu. Auf dem sogenannten Playground lernten Wissenschaftsjournalisten das Highlight kennen: In höchster 3D-HD-Qualität erlebte man an einem Herzsimulator, wie Ärzte in Zukunft Herzbeschwerden untersuchen und - über ein Netzwerk mit anderen Ärzten verbunden - heilen werden. Im Mittelpunkt stand die Verbindung von realer und virtueller Welt. Dassault Systèmes bündelt in diesem Projekt das Know-how in den Bereichen 3D-Design, 3D-Digital Mock-up und Product Lifecycle Management (PLM).

„Das Living Heart Project hat uns die Augen für das Potenzial virtueller Zwillinge für die Gesundheitsversorgung geöffnet, indem es globale Daten und Know-how zu dreidimensionalen, realistischen Simulationen des menschlichen Herzens verbindet“, freut sich Steve Levine, Executive Director Living Heart Project, Dassault Systèmes, sechs Jahre später bei dem „6th Annual Living Heart Symposium“. Sichtlich bewegt blickt der Gründer des Projekts zurück: „Ich habe mir angesehen, welche erstaunliche Technologie wir anderen Branchen wie der Automobilindustrie zur Verfügung gestellt haben und wie die Ingenieure den Vorteil der kompletten virtuellen Welt nutzen, um ein komplettes Auto auf dem Computer darzustellen. Die Kollegen in der medizinischen Industrie arbeiten dagegen mit relativ einfachen Computer-Modellen.”

Sechs Jahre später hat Dassault die Lücke geschlossen. Living Heart hat sich dank der Unterstützung von Hunderten von Projekt-Mitgliedern zu einem multiplen Modell weiterentwickelt. Levine erklärt: „Es beginnt mit einem 3D-Modell des elektrischen Systems des Herzens. Wir simulieren das Herz auf die gleiche Weise wie die Natur. Die Mitglieder nutzen es regelmäßig, um die Interaktionen der medizinischen Geräte zu untersuchen und um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Das „Living Heart Project“ sorgte für eine Initialzündung: Mittlerweile bilden Dassault Systèmes und seine Partner den gesamten Körper mit allen Organen bis hin zur kleinsten Zelle als digitale Zwillinge ab.

„Wir haben gelernt, dass sich die Reaktion des menschlichen Körpers mit modernen Computern simulieren lässt. Das ist eines Tages genauso alltäglich wie die Simulation von Maschinen“, sagt Levine. Seiner Ansicht nach sollte die Automobilindustrie die Grenzen von physischen Dummys mit ihren vielen Einschränkungen überschreiten - vor allem mit Blick auf den Verkehr mit sehr vielen unterschiedlichen Fahrzeugtypen, Antriebssystemen und Fahrszenarien. Nur den Einsatz von virtuellen Menschen in realistischen Szenarien sieht er als eine Chance an, gleichzeitig für Sicherheit und zuverlässiges Verhalten zu sorgen und zugleich Innovationen zu fördern. Und an diesem virtuellen Prozess sollten sich auch staatliche Behörden beteiligen.

Der Schlüssel zum Erfolg bestehe darin zu lernen, wie sich die kritischen Grenzen der Simulation überwinden lassen. So ließen sich oft nicht genügend Daten für die spätere Validierung erfassen. Levine sagt: „Es fällt schwer, die Qualität einer Simulation bei Szenarien zu beurteilen, die man nicht messen kann. Daher werden sie oft nicht berücksichtigt. Es lassen sich viele Verhaltensweisen der inneren Organe nicht messen. Daher mussten wir neue Wege gehen, um die Genauigkeit ohne direkte Messung zu bewerten. Wir vertrauen daher nie einem Modell voll und ganz, sondern ergänzen es mit Hilfe menschlicher Erfahrung.“ Diese Kombination von virtueller und realer Welt ist ein sich iterativ verbessernder Prozess, der Vertrauen schafft.”

Für den Erfolg sorgte auch die Gründung eines multidisziplinären Teams, das die 3D-Simulationsmodelle als Werkzeuge für eine klare Kommunikation zwischen den verschiedenen Standpunkten nutzt. Um das Verhalten eines Menschen oder einer Maschine vollständig zu verstehen, bedarf es laut Levine verschiedener Sichtweisen mit unterschiedlichen Fachbegriffen für ähnliche Ereignisse. Auch in der Automobilindustrie sei diese Vorgehensweise im Kommen, aber die meisten Unternehmen der Branche würden immer noch mit unterschiedlichen Systemen arbeiten, die nicht in der Lage seien, das Gelernte auf sinnvolle Art und Weise zu teilen.

„Schließlich ist der menschliche Körper ein Wunderwerk der Technik, das für seinen Zweck optimiert ist“, meint Levine. „Evolutionäre Prinzipien lassen sich nutzen, um widerstandsfähigere Maschinen zu schaffen, die weitaus kompatibler mit der Umwelt sind als frühere Maschinen. Der menschliche Körper wurde so konstruiert, dass er in allen Teilen seines Lebenszyklus optimale Leistung erbringt. Unsere Maschinen wurden bei ihrer „Geburt“ auf optimale Leistung ausgelegt und bauen im Laufe der Zeit einfach ab, anstatt sich anzupassen.“

Gefragt sind daher Verfahren wie generatives Design und maschinelles Lernen. Doch es würde nichts bringen, diese zukunftsweisenden Techniken bei althergebrachten Lösungen anzuwenden. Levine schätzt: „Unsere Arbeit muss explizit den dynamischen Lebenszyklus einbeziehen - mit anderen Worten: Es geht um echte Nachhaltigkeit, die eine neue Art des Nachdenkens über das Problem und seine ideale Lösung voraussetzt.”

Wie bewertet ein Mann aus der Praxis das Projekt? Mathias Peirlinck, Postdoktorand an der Stanford University, Department of Mechanical Engineering, lernte das Projekt während seiner Promotion kennen: „Als ich in einem Labor eine Forschungslinie für kardiale Biophysik entwickelte, bot mir das damals frisch gegründete Living Heart Project die Zusammenarbeit in einer Gemeinschaft an. Sie teilen meine Leidenschaft, genaue biophysikalische virtuelle Modelle des menschlichen Herzens zu entwickeln, um Klinikern die dringend benötigten Simulations- und Modellierungswerkzeuge zur Verfügung zu stellen, die andere Ingenieursdisziplinen schon seit Jahrzehnten nutzen.“

Doch was können Ingenieure von Medizinern mit virtueller Erfahrung lernen? Peirlinck betont: „Wir müssen zusammenarbeiten, um die Herausforderungen zu verstehen, mit denen Klinikmitarbeiter bei der Planung von Therapien und chirurgischen Eingriffen konfrontiert sind. So können wir herausfinden, wie wir eine Technik entwickeln, die dem Klinikpersonal viel präzisere personalisierte Erkenntnisse als der aktuelle Goldstandard der randomisierten klinischen Studie bietet.”

Bei dieser Zusammenarbeit soll die virtuelle Realität (VR) eine immer wichtigere Rolle spielen, da sich mit ihr Erkenntnisse und Expertise leichter kommunizieren lassen. Peirlinck ergänzt: „Als Ingenieure können wir zum Beispiel die VR-Technologie nutzen, um den Klinikmitarbeitern eine Echtzeit-3D-Überlagerung von simulationsbasierenden Ergebnissen zu liefern, die ihnen die optimale Stelle für einen Schnitt, zur Ablation des Gewebes oder zur Implantation eines Geräts nennt. Genauso ist VR ein sehr wichtiges pädagogisches Werkzeug für den Arzt, um Patienten aufzuklären, und für Ingenieure, die sich mit einem bestimmten medizinischen Problem vertraut machen wollen, um es zu lösen.“

Genauso spannend ist seine „Lesson Learned“: Seiner Meinung nach brauchen wir einen neuen Medizintechniker. „Ich habe 2013 meinen Abschluss als Biomedizintechniker an der Universität Gent in Belgien gemacht, wo ich ausgebildet wurde, um Ingenieurtechniken zu entwickeln und anzuwenden, die den menschlichen Körper beschreiben, verstehen und innovative Lösungen für die Herausforderungen finden, die man täglich in der Klinik sieht“, erklärt Peirlinck. Dies erweiterte sein Ingenieurwissen erheblich – von der Biomechanik, Entwicklung von medizinischen Robotern und Geräten, künstlichen Organen bis hin zum Krankenhausmanagement. Mehrere Universitäten auf der ganzen Welt setzen laut Peirlinck bereits auf diese neue Form von medizinisch ausgebildeten Ingenieuren, die nun nach und nach den Weg in die Klinik finden: „Ich werde demnächst als Assistenzprofessor für kardiovaskuläre Biomechanik die nächste Generation von Medizintechnikern ausbilden, die dann bestens gerüstet sind, um diesen Bereich zu revolutionieren.”

Die Erfolgsgeschichte des Projekts beflügelte nicht nur die akademische Ausbildung, sondern erfasst nun auch den gesamten menschlichen Körper bis in die kleinste Zelle: Auf der Online-Konferenz stellte beispielsweise Daniel Hurtado, außerordentlicher Professor an der Pontifica Universidad Católica de Chile, die „Living Lung“ vor. Der Wissenschaftler berichtete, dass Lungensimulationen allerdings noch bis zu zwölf Stunden dauern. Hurtado schlug vor, diesen Simulationsprozess durch Vereinfachung des Modells zu verkürzen. Die Laufzeit einer Simulation hängt stark von der Komplexität des verwendeten (Gewebe-)Modells ab. „Aktuelle Simulationen können weniger als zwei Stunden dauern, wenn sie sehr einfache Modelle verwenden, aber sie arbeiten dann nicht sehr genau“, erklärt er. „Auf der Konferenz zeigte ich ein mikromechanisches Gewebemodell, das bei minimaler Rechenzeit sehr gute Vorhersagen bietet. Wir arbeiten derzeit daran, ein Gewebemodell für die Simulationen von kompletten Organen zu implementieren. Die bisherigen Simulationszeiten lassen sich verkürzen, wenn wir unsere Implementierung optimieren.”

Ebenso spannend ist das „Living Brain“. Es betreut Nicolas Gazères, der bei Dassault Systèmes ein Team für Computational Neurology leitet. Gefragt, ob das lebende Gehirn auch dazu dienen könne, die Arbeitsweise von künstlicher Intelligenz oder von Maschinensteuerungen zu verbessern, verneint der promovierte Experte für computergestützte Neurologie, denn Living Brain wurde für klinische Anwendungen entwickelt, nicht für Anwendungen der Informatik- oder KI. KI-Technik wie Deep Learning sei auf die Organisation des visuellen und motorischen Systems ausgelegt. Sie repräsentiere die Informationsverarbeitung auf der räumlichen Skala (Zelle, kleine Netzwerke, visuelle und motorische Weiterleitungsbahnen), die kleiner ist als die von seinem Team modellierte.

Während KI und motorische Kontrollsysteme im Detail Entscheidungen kleiner Schaltkreise oder einzelner Neuronen modellhaft abbilden, modelliere Living Brain die Ausbreitung epileptischer Aktivitäten über den Cortex. Die Arbeitsweise von Living Brain könne man in Bezug auf die Epilepsie metaphorisch mit der Erdbebengeophysik vergleichen, wobei Living Brain die Erde modelliert. Gazères sagt: „Die epileptische Aktivität könnte man mit einer seismischen Welle vergleichen. Klinisches Ziel ist es, die epileptogene Zone - also das Gehirnareal, das mit der Auslösung des Anfalls assoziiert ist - zu bestimmen, ähnlich wie die Erdbebengeophysik darauf abzielt, das Epizentrum zu lokalisieren.“

Im realen und virtuellen Gehirn arbeitet eine Vielzahl von Sensoren, deren Messung den Prozess beeinflusst. Interessant ist es daher, wie Dassault Systèmes die Arbeitsweise des Modells validiert. Der Fachmann stimmt mit Blick auf die Rolle der Messungen zu. So umfasse Living Brain zum Beispiel für die Behandlung einer medikamentenresistenten Epilepsie eine präoperative Bewertungsphase: Elektroden werden in das Gehirn des Patienten implantiert, um die Ausbreitung der epileptischen Aktivität so detailliert wie möglich zu überwachen. Diese Elektroden werden sorgfältig implantiert, um das kortikale Gewebe so wenig wie möglich zu beschädigen. Allerdings muss die Elektrode ihren Weg durch das Hirngewebe finden, und sie wird daher unvermeidlich Läsionen verursachen, die für Gewebeschäden sorgen. Um Risiken bei Implantationen zu verringern, nutzen Chirurgen Protokolle. Das Gehirn ist allerdings ausreichend redundant organisiert. Eine Funktion hängt also nicht von einem bestimmten Neuron oder einer bestimmten Gruppe von Neuronen ab. Daher gilt der durch Implantation dünner Elektroden entstehende Schaden als akzeptabel. Gazères sagt: „Die Validierung erfolgt individuell anhand der Hirnmorphologie des Patienten. Sie wird insbesondere bei Krämpfen an die während der Implantation aufgezeichnete elektrische Hirnaktivität angepasst.“

Wen wundert es bei so motivierten Anwendern, dass der „Erfinder“ des Living Heart Projects optimistisch in die Zukunft blickt. Seine Prognose: „Es ist ein enormer Sprung in eine Zukunft mit einem vorbeugenden, exakten und personalisierten Gesundheitssystem, das virtuelle Zwillinge für alle menschlichen Bereiche ermöglicht.“ Als Ingenieur bin ich nicht der Einzige, der von dieser Entwicklung fasziniert ist, die auch Auswirkungen auf andere Branchen haben wird: Als Herzpatient bin ich gespannt, wann ich meinen digitalen Zwilling erhalte.

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