Jürgen Kletti

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Industrie 4.0

Stufe 3 auf dem Weg
zur Smart Factory

Bei der Selbstregelung geht es vorrangig darum, dass ein bestimmter Ablauf oder Prozess sich selbst so reguliert, dass vorgegebene Parameter möglichst gut eingehalten werden. Begriffe wie Selbstregelung, Selbstoptimierung oder selbstlernende Maschinen tauchten bereits in den Anfängen der Industrie 4.0 auf. Sie haben sich hartnäckig gehalten und erfahren in letzter Zeit wieder häufiger eine Nennung. Was steckt hinter diesem Themenfeld? Und viel wichtiger: Was bringt es der Fertigungsindustrie?

Nach wie vor träumen Enthusiasten davon, dass sich mit Industrie 4.0 alles selbst regelt und kein Mensch mehr eingreifen muss. Um die dadurch programmierte Komplexität zu beherrschen, müsste man die gesamte Erfahrung und Intelligenz der Menschheit in ein IT-System übertragen. Da jedoch die menschenleere Fabrik nicht im Sinn der Industrie 4.0 ist, sollte die Selbstregelung sich als eine klar umrissene Disziplin beschränken.

Innovative Konzepte wie Selbstoptimierung oder selbstlernende Maschinen sind weiterführende Ansätze, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Selbstregelung aufbauen. Als Definition der Selbstregelung sei festzuhalten, dass es sich dabei im Wesentlichen um einen modernen Begriff aus der Regelungstechnik handelt. Neu daran ist insbesondere die gesteigerte Transparenz, die es möglich macht, schneller auf Abweichungen vom Soll zu reagieren beziehungsweise im Idealfall eine Abweichung vorauszusehen und vorab gegenzusteuern.

Selbstregelung in der Fertigung

Im Fertigungsumfeld geht es beispielsweise um eine optimale Auslastung von Maschinen, die Sicherstellung von Qualität oder die Steigerung der Produktivität. Die Zahl der möglichen Stellgrößen sowie der spezifizierten Zielparameter ist beliebig groß. Manche Parameter lassen sich auch nur durch manuellen Eingriff verändern. Trotzdem führen die Ansätze der Selbstregelung zum Erfolg – vorausgesetzt, man definiert die passenden Regelkreise und stattet diese mit den notwendigen Kompetenzen und Befugnissen aus.

Darstellung der Produktion als Regelkreis – auf die Detaillierung kommt es an. Ansätze der Selbstregelung führen zum Erfolg – vorausgesetzt, man definiert die passenden Regelkreise und stattet sie mit den notwendigen Kompetenzen und Befugnissen aus. Bild: MPDV

Gemäß dem Vier-Stufen-Modell „Smart Factory“ von MPDV braucht die moderne Fertigung zunächst Transparenz und Reaktionsfähigkeit, um darauf aufsetzend eine Selbstregelung einzurichten. Basis für die beiden ersten Stufen sind integrierte Manufacturing Execution Systeme (MES), die dazu sowohl Daten in Echtzeit erfassen als auch Funktionen zur Visualisierung und zur Steuerung der Produktion anbieten. Die Selbstregelung ist die nächste Stufe der Nutzung von erfassten Daten und etablierten Steuerungsmechanismen.

Ausprägungen der Selbstregelung

Die einfachste Form der Selbstregelung besteht darin, Parameter zu überwachen und beim Überschreiten von Schwellenwerten eine Benachrichtigung zu verschicken beziehungsweise ein Signal zu geben, damit manuell darauf reagiert werden kann. In MES-Systemen heißen Funktionen dieser Art beispielsweise „Eskalationsmanagement“ oder „Messaging & Alerting“.

Etwas mehr können Funktionsbausteine, die im MES in der Regel als „Workflow Management“ bezeichnet werden. In diesem Fall wird nicht nur über die Abweichung vom Soll informiert, sondern auch gleich eine Gegenmaßnahme vorgeschlagen beziehungsweise eingeleitet.

Eine weitere Steigerung sind komplett sich selbst regelnde Systeme. Ein Beispiel ist Kanban beziehungsweise das digital unterstützte Äquivalent eKanban. Damit wird automatisch Nachschub bestellt, sobald das Material zur Neige geht. Durch die eingebaute Regelung werden jedoch keine unnötigen Bestände aufgebaut.

Die Königsklasse der Selbstregelung ist die Prozessverriegelung. Diese stellt beispielsweise sicher, dass allein das Material verwendet wird, welches für den jeweiligen Arbeitsschritt vorgesehen beziehungsweise freigegeben ist, und dass nur diejenigen Teile weiterkommen, die einwandfrei bearbeitet wurden.

Alle diese Ausprägungen der Selbstregelung lassen sich mit einem integrierten MES abbilden, da die dafür notwendigen Informationen bereits im System vorliegen und auch die beteiligten Personen mit dem MES interagieren.

Mensch-Technik-Interaktion

Im Vordergrund sollte stets stehen, dass die Technik eine Unterstützung für den Menschen ist und nicht der Mensch der Technik zu dienen hat. Vielmehr wird der Werker durch die Unterstützung des MES zum „Augmented Operator“. Hinter diesem Begriff steckt das Konzept, dass der Werker unmittelbaren Zugang zu weiterführenden Informationen hat, die ihm in der jeweiligen Situation nützlich sind, um fundierte Entscheidungen zu treffen. Durch eine geeignete Mensch-Technik-Schnittstelle wird der Werker auf ergonomische Art und Weise zum Teil der Selbstregelung. Um die Wirksamkeit dieser Integration zu steigern, sollten die Mitarbeiter in ihrem jeweiligen Bereich mit den notwendigen Kompetenzen ausgestattet werden, um im Bedarfsfall dezentrale Entscheidungen zu treffen.

Wege zur Dezentralisierung

Auf dem Weg zur Selbstregelung und somit auch zur Dezentralisierung braucht es mehr als ein MES beziehungsweise IT-Unterstützung. Vielmehr geht es um einen Paradigmenwechsel in der Fertigungskultur, die sich oftmals als eingefahrene Organisation widerspiegelt. Daher empfiehlt sich zu Beginn eine umfassende Analyse des Ist-Zustands: Prozesse und Abläufe, Zuständigkeiten, dokumentierte und nicht dokumentierte Regeln sowie vorhandene Erfahrungen, die ausschlaggebend für Entscheidungen im jeweiligen Bereich sind.

Bei dieser Gelegenheit sollte der Ist-Zustand zumindest hinterfragt und die zugrundeliegenden Prozesse sollten verschlankt werden. Die Methoden des Lean Manufacturing haben sich als zielführend erwiesen. Nun gilt es, die erfasste und möglichst optimierte Gesamtsituation in Regelkreisen abzubilden. Dazu eignen sich sowohl einfache Wenn-Dann-Beziehungen als auch komplexe, gegebenenfalls mathematische Abhängigkeiten. Erst im dritten Schritt werden diese Regelkreise in einem geeigneten IT-System abgebildet. Die meisten fertigungsnahen Regelkreise lassen sich mit einem modernen MES umsetzen.

Dass Regelkreise und somit auch die Selbstregelung keine Erfindung von Industrie 4.0 sind, belegen smarte Anwendungen, die Fertigungsunternehmen unterschiedlicher Branchen und Größen bereits erfolgreich mit einem MES umgesetzt haben.

Smarte Intralogistik

Ein mittelständischer Metallverarbeiter nutzt den Statuswechsel an den Maschinen in der Fertigung, um die Mitarbeiter im Lager über Materialmangel zu informieren. Diese wiederum können anhand von Maschinennummer und Auftrag sofort im MES erkennen, welches Material an der Maschine benötigt wird. Hierzu braucht es nur einen sehr geringen Funktionsumfang im MES.

Mit etwas mehr Funktionen könnte der Lagermitarbeiter sogar vor dem Auftreten eines akuten Materialmangels informiert werden – beispielsweise über eine MES-basierende Reichweitenbetrachtung für bestimmte Materialien. Der Regelkreis würde wie folgt aussehen: Wenn das Eingangsmaterial an der Maschine unter einen festgelegten Bestand fällt und der laufende Auftrag mit dem noch verfügbaren Material nicht fertiggestellt werden kann, dann fordere dieses Material in einer festgelegten Menge im Lager an. Noch eleganter würde die Materialversorgung mit einem eKanban-System funktionieren. Dann sorgt das System von sich aus für ausreichend Material an der Maschine.

Smarte Instandhaltung

Ein Kunststoffverarbeiter nutzt den erfassten Energieverbrauch der Maschinen in Korrelation zu den angemeldeten Aufträgen, um festzustellen, wann die Anlage die nächste Wartung benötigt. Hierzu gleicht das MES den Soll-Verbrauch mit dem Ist-Verbrauch ab, was als Regelkreis so definiert wird: Wenn der erfasste Verbrauch mehr als 30 Prozent über der Vorgabe liegt, ist eine außerplanmäßige Wartung anzusetzen. Der zugehörige Wartungsauftrag wird über den Auftragsvorrat automatisch zeitnah eingelastet. Nach Durchführung der Wartung wird auch das reguläre Wartungsintervall zurückgesetzt, was zu einer deutlich effizienteren Nutzung der Anlage führt.

Smarte Qualitätsprüfung

In der Regel orientieren sich stichprobenartige Qualitätsprüfungen an produzierten Mengen oder Zeiträumen. Ist ein MES im Einsatz, kann zusätzlich auch ein Wechsel des Maschinenstatus die Prüffälligkeit auslösen. Dadurch besteht die Möglichkeit auf Ereignisse wie Störungen oder Materialwechsel zu reagieren und so ohne zusätzlichen Aufwand die geforderte Qualität sicherzustellen. In Kombination mit einem Probenzug können außerdem Prüfpunkte im Qualitätslabor erzeugt werden. Sobald die Materialproben im Qualitätslabor ankommen, werden die entsprechenden Prüfpunkte abseits der Fertigung abgearbeitet. Je nach räumlicher Gegebenheit ist auch die automatische Generierung eines Transportauftrags für die Probe denkbar.

Smarte Montagelinien

Bei der Herstellung variantenreicher Zulieferteile für die Automobilindustrie muss einerseits der komplette Herstellungsprozess dokumentiert und andererseits sichergestellt werden, dass nur einwandfreie Teile verarbeitet und ausgeliefert werden – meist in einer vorgegebenen Reihenfolge. Eine in diesem Sinn implementierte Prozessverriegelung prüft für jedes Teil bei jedem Arbeitsschritt, ob dieses für den aktuellen Schritt freigegeben ist und ob die bisherige Verarbeitung ohne Fehler verlief. Auf Basis einer kontinuierlichen Dokumentation sämtlicher Parameter ist diese Abfrage als Abgleich mit den Soll-Vorgaben ohne weiteres im MES möglich.

Auf den Hallenboden geholt

Wie bei vielen Themen, die unter dem Deckmantel Industrie 4.0 diskutiert werden, so empfiehlt es sich auch bei der Selbstregelung zunächst einmal genau abzustecken, in welchem Umfeld man etwas tun möchte und dann zu definieren, welches Ziel man damit verfolgt. Erst danach ist die Wahl der Methoden und Technologien angezeigt.

Dabei präsentieren sich nicht selten bewährte und bereits selbst genutzte Techniken als zielführend für die jeweilige Anforderung. Im Fall der selbstregelnden Fabrik eignen sich sowohl Methoden des Lean Manufacturing als auch die Anwendung von klassischer Regelungstechnik. Beides bringt das Unternehmen der Smart Factory einen Schritt näher. Zudem zeigt sich einmal mehr, dass ein integriertes MES in der Lage ist, einen wesentlichen Beitrag zu leisten.

Trotzdem wird es auf absehbare Zeit Prozesse geben, die sich nicht ohne menschliches Zutun regeln können. Vielmehr wird der Mensch immer eine zentrale und notwendige Rolle in der ständig komplexer werdenden Welt der Fertigungsindustrie und somit auch bei der Selbstregelung einnehmen.

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Prof. Dr.-Ing. Jürgen Kletti

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