Titelinterview
Agile Anpassung
hilft der Medizintechnik
Vom Stiefkind zum Liebling: Die Medizintechnik hat einen Schnupfen, während sich die Grippe im Maschinenbau offenbar bis ins nächste Jahr zieht. Was hat dem Fachzweig eine höhere Abwehrkraft verliehen? Agile Anpassung an die durch Corona veränderten Bedingungen sieht Edgar Mähringer-Kunz, Vorstandsvorsitzender der VDMA Arbeitsgemeinschaft Medizintechnik und geschäftsführender Gesellschafter der IMSTec GmbH in Klein-Winternheim bei Mainz, als wichtige Eigenschaft der Unternehmen, wie er im Gespräch mit Georg Dlugosch, dem Chefredakteur des IndustryArena eMagazines, erklärte. Die IMSTec GmbH entwickelt Automatisierungsprozesse bis hin zu vollautomatisierten Fertigungslinien für medizintechnische Produkte.
Wie sehen die Lernerfolge der vergangenen Wochen unter Corona-Bedingungen aus?
Mähringer-Kunz: Medizin und Technik zeigen sich als Fels in der Brandung beispielsweise im Unterschied zur Fahrzeugbranche. Allerdings gab es bei den Krankenhäusern auch Schwierigkeiten, weil viele Operationen abgesagt worden. Dadurch erlebten Hersteller von Implantaten einen Einbruch des Umsatzes. Hinzukam die Umstellung auf Home-Office, was die Abstimmungen erschwert hat. Diese Irritationen in der Branche hatten Auswirkungen auf die Investitionsgüter mit einem verzögerten Auftragseingang. Das hat auch IMStec gespürt, allerdings nicht in dem Ausmaß wie andere Unternehmen. Wir konnten die Lücke kompensieren. Der Austausch im VDMA-Arbeitskreis hat gezeigt, dass es den aktiven Mitgliedern gelungen ist, sich mit der Krise zu arrangieren. Teils wurden neue Aufträge beispielsweise zum Abfüllen von Impfstoffen oder Anlagen zur Herstellung von Schutzmasken generiert.
Was bedeutet das für die Umsatzerwartungen der Branche?
Mähringer-Kunz: Ich kenne die Zahlen der Umfragen des VDMA für den Maschinenbau allgemein. Ich sehe weder für unser Unternehmen noch für die Mitglieder des Arbeitskreises eine derart schwierige Entwicklung.
Die Medizintechnik verbreitet also den Konjunkturlichtblick?
Mähringer-Kunz: Es mag Ausnahmen geben, aber sie wirken sich nicht so stark aus. Durch agiles Anpassen an die neuen Bedingungen wurden Aufträge kompensiert. Die Medizintechnik ist zwar nicht so dynamisch, aber sie entwickelt sich dafür deutlich stabiler.
Wird die Erfahrung des Lieferengpasses dazu führen, dass mehr Produkte in Europa hergestellt werden?
Mähringer-Kunz: Ich kann es mir für den europäischen Markt gut vorstellen, aber wie immer muss man abwarten, ob es sich um eine punktuelle Forderung handelt und sie in wenigen Monaten vergessen ist, oder ob sich die Interessen tatsächlich verändern. Es hat einen Grund gegeben, warum sich bestimmte Produktionen nach China verlagert haben. Diese Gründe gibt es nach wie vor. Wenn man daran etwas ändern will, dann muss man auch an den Rahmenbedingungen etwas ändern.
Welche sind das?
Mähringer-Kunz: Das geht zum einen über die Politik und beispielsweise über Zölle. Wenn die Voraussetzungen sich nicht ändern, dann wird sich auch nichts an dieser Situation ändern. Wir haben immer noch das Problem, dass zum Beispiel in der Pharmaindustrie die Wirkstoffe hauptsächlich aus Asien kommen, bloß weil man das Geschäft auf den letzten Cent hin optimiert. Wenn man die Unternehmen zwingt, sich betriebswirtschaftlich auszurichten, dann kommt die jetzige Situation dabei heraus. Wenn man die Rahmenbedingungen nicht ändert, dann wird sich auch keine Änderung ergeben. Davon bin ich überzeugt.
Kann dazu die gesellschaftliche Diskussion einen Beitrag leisten?
Mähringer-Kunz: Diese Diskussion wird leider nicht oder nur von einer kleinen Gruppe geführt. Ein schönes Beispiel ist die Herstellung von Fleisch. Diese Missstände sind lange bekannt. Durch Corona sind die Missstände erneut offenkundig geworden. Wie kann es sein, dass in einem Land wie Deutschland Arbeitnehmer aus dem Ausland unter unwürdigen Umständen arbeiten müssen? Die Missstände wurden von allen ignoriert. Der Gesetzgeber und die Berufsgenossenschaft schließen beide Augen. So wird es auch in anderen Bereichen gehen, wenn es nicht zu einer nachhaltigen Diskussion kommt. Ich habe das Vertrauen auf ein Umdenken in der Gesellschaft im großen Bereich leider verloren.
Kann die Industrie etwas unternehmen, um eine nachhaltige Lösung zu finden?
Mähringer-Kunz: Im Bundestag wird jetzt ein Gesetz vorbereitet, bei dem es um die Unternehmerhaftung in der Lieferantenkette geht. Ich habe dazu eine zwiespältige Meinung. Wir arbeiten auch mit Lieferanten in Asien zusammen. Ich lege größten Wert auf humane Arbeitsbedingungen. Trotzdem können wir nicht die Verantwortung bis ins letzte übernehmen. Von Unternehmen werden Dinge verlangt, bei denen sich der Staat heraushält.
Nach Einschätzung von Edgar Mähringer-Kunz, dem Vorstandsvositzenden der VDMA Arbeitsgemeinschaft Medizintechnik, hat die Branche die Corona-Krise mit Hilfe agiler Anpassung besser gemeistert als andere Fachzweige im Maschinenbau. Foto: IMStec
Können Compliance-Regeln helfen?
Mähringer-Kunz: Wir hatten einen Lieferanten in Malaysia, von dem wir nicht mehr beliefert werden wollen. Der Grund war nicht die Qualität der Produkte, sondern weil wir bei Audits festgestellt haben, dass man so mit Menschen nicht umgehen sollte. Das waren keine betriebswirtschaftlichen Gründe. Als kleines Unternehmen können wir ihm die Betriebskultur nicht diktieren, aber wir können entscheiden, von wem wir beliefert werden wollen.
Was ist das Erfolgsgeheimnis, von dem die Medizintechnik jetzt profitiert?
Mähringer-Kunz: Im Vergleich zu anderen Branchen sind die Produktentwicklungszyklen in der Medizintechnik und im Pharmabereich lang. Teilweise geht es um viele Jahre. Wenn man solche Projekte auflegt, dann ist man kurzfristigen Schwankungen nicht so ausgeliefert. Eine Produktzulassung kann durchaus fünf Jahre und mehr dauern. Wir kennen beispielsweise von unseren strategischen Kunden die Entwicklungsroadmap für die nächsten zehn Jahre. Sie machen teilweise ein Process Development Outsourcing an uns. Dann kann man auch entsprechend planen, aber man hängt durchaus mit am Erfolg der Kunden, aber durch die langen Entwicklungszeiten gibt es eine hohe Stabilität.
Bei dieser Stabilität spielt die Qualität eine große Rolle. Wo sind die Unterschiede zu anderen Branchen?
Mähringer-Kunz: Die Medizintechnik ist stark reguliert, der Pharmabereich noch viel stärker. Es gibt detailliert vorgegebene Entwicklungsmeilensteine. Über das Medizintechnikgesetz in Deutschland oder die FDA in Amerika erhält man knüppelharte Vorgaben. Da muss man sich durcharbeiten.
Ist das aus ihrer Sicht übertrieben?
Mähringer-Kunz: Wenn man grundsätzlich entscheiden muss, dann ist es gut so. Wenn man es differenziert betrachtet, müsste es an einigen Stellen vielleicht sogar noch strenger werden, und an anderen Stellen ist es übertrieben. Das liegt in der Natur der Sache bei Regelwerken. Im Grunde genommen finde ich es eine vernünftige Regelung.
Welche Rolle spielt die Individualität bei den Produkten in der Medizintechnik?
Mähringer-Kunz: Rein in der Medizintechnik hat man eine hohe Vielfalt an Produkten und dafür relativ geringe Produktionsvolumen in den einzelnen Gruppen. Starre Automation kann bei dieser Fertigung nicht eingesetzt werden. Wir brauchen sehr flexible Automation. Leider sind die Produkte noch nicht automationsgerecht designt. Das steht noch nicht so sehr im Vordergrund, aber das ändert sich. Die Anlagen, die wir bauen, rüsten sich automatisch und erlauben die Fertigung von mehreren 100 Produkten ohne manuelle Rüstung. Das ist ein deutlicher Trend. Ich würde es nicht unbedingt als Industrie 4.0 bezeichnen, aber Aspekte davon gehören mit Sicherheit dazu. Patientenspezifische Fertigung geschieht beispielsweise bei Schädelplatten, die nach Unfällen benötigt werden. Das ist immer noch die Ausnahme, aber auch da hilft die 3D-Druck-Technologie, um für Patienten individuell zu sorgen. IMStec beispielsweise bringt in diesem Jahr eine Lösung auf dem Markt, die Tabletten patientenspezifisch abfüllt. Diese Lösung kommt, aber es ist noch ein langer Weg, bis es flächendeckend eingesetzt wird.
Wo steht die Branche in Bezug auf Digitalisierung und Vernetzung?
Mähringer-Kunz: Bei unseren Kunden finden wir noch sehr uneinheitliche Gegebenheiten. Die gewachsenen Strukturen sind teilweise sehr papierlastig. Computer System Validation ist ein riesiger Aufwand auch für die Großen der Branche. In den vergangenen Jahren hat sich jedoch sehr viel getan. Die Zugangskontrolle beispielsweise ist bei unseren Anlagen komplett automatisiert. Rezept- verwaltung, Auftragsverwaltung, Prozessdatenmanagement, Nachverfolgbarkeit geht mit Automation einher.
Was schätzen Sie, wie lange dieser Prozess noch dauern wird?
Mähringer-Kunz: Der Prozess hat begonnen, es gibt auch Industrien die Vorreiter sind, das werden Medizin, Technik und Pharma nie sein. Sie müssen ein hohes Level an Qualität nachweisen. Das Thema der Validierung ist ein großes Thema. Es wird ein gigantischer Aufwand betrieben, der im Verhältnis zum Nutzen stehen muss.
Beschäftigt sich die Branche schon mit künstlicher Intelligenz?
Mähringer-Kunz: Am Rande. Die Prozesse müssen alle validiert werden. KI im weitesten Sinn ist schwer zu validieren, es sei denn, man erlaubt der KI, dass sie sich innerhalb von validierten Grenzen bewegt. Dafür gibt es einige Ansätze. Beispielsweise wird KI bei der Oberflächeninspektion eingesetzt, wo es um Feinjustage und Algorithmen innerhalb validierter Grenzen geht. Auch bei der Fertigungsplanung kommt KI zum Einsatz. Aber das ist kein großes Thema in der Branche.
Was sind die großen Fragen?
Mähringer-Kunz: Das neue Medizintechnikgesetz hat für Aufregung gesorgt, auch wenn die Einführung auf nächstes Jahr verschoben wurde. Meine Kunden haben große Sorgen, dass die Zahl der benannten Stellen nicht ausreichen wird. Das internationale Geschäft mit der Verlagerung der Produktion ist für meinen Kundenkreis ebenfalls ein Thema. Durch den Einfluss von Corona mussten klinische Studien unterbrochen werden. Bei einem Kunden, der Brustimplantate herstellt, ist das Geschäft fast auf null gesunken. Größere Unternehmen haben ihre Produktion reduziert, was beispielsweise die orthopädischen Implantate betrifft. Zu den langfristigen Trends gehört eindeutig die Automatisierung. Man versucht, die Entwicklungszeiten der Produktion zu optimieren und die Fertigungseffizienz zu erhöhen.
Welche Trends gibt es in der Zerspanung für die Medizintechnik?
Mähringer-Kunz: Ein Beispiel für Trends in der Zerspanung ist unsere Kooperation mit der Firma Schütte. Der Hersteller von Schleifmaschinen zum Beispiel für Knieimplantate oder Schultern mit der Automation von IMStec. In der Vergangenheit hat man die Kernprozesse wie Schleifen und Fräsen stark optimiert. Aber die peripheren Prozesse wie die Vorbereitung der Teile für den Schleifprozess und das anschließende Reinigen oder Gravieren mit dem Laser und die Oberflächenbeschichtung wurden vernachlässigt. Deshalb hat das Rüsten viel manuellen Aufwand erfordert. Bei den Rüstzeiten konnte auch jeweils nur ein Produkt verwendet werden. Deshalb haben wir neue Lösungen geschaffen, bei denen man die Maschine mit unterschiedlichen Losen beladen kann, die Rezepte werden dann automatisch geladen. Die Maschine holt sich ihr Material selbst. Sie kann zwei Tage mannlos laufen. Die Prozesskettenkontrolle ist integriert. Dieser Trend hilft, Lösungen den richtigen Speed zu geben und die Produktivität bei den Endkunden zu erhöhen.
Titelbild: IMStec
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Edgar Mähringer-Kunz
VorstandsvorsitzenderVDMA Arbeitsgemeinschaft Medizintechnik
und geschäftsführender Gesellschafter
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